Risiko Ticona: Die Entscheidung der Störfall-Kommission
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Von: @cf <2005-07-01>
Die Störfall-Kommission hat entschieden, dass der Betrieb des Chemiewerks Ticona und die geplante Nordwestbahn wegen des zu großen Risikos nicht miteinander vereinbar sind. Die Landesregierung will die Nordwestbahn trotzdem bauen, notfalls will man Ticona enteignen. Wie wird der Streit ausgehen?

Die Störfall-Kommission des Bundes hat sich mit der Frage beschäftigt, ob die geplante Nordwestbahn nicht ein zu großes Risiko darstellt. Denn in der Einflugschneise liegt das Chemiewerk Ticona , das gefährliche Stoffe verarbeitet und deshalb der Störfallverordnung unterliegt. Beim Anflug auf die Nordwestbahn von Westen her würde das Werk in weniger als 100m Höhe überflogen, ein eventueller Absturz eines Flugzeugs auf das Werk hätte katastrophale Folgen.

Anfang 2004 hat die Kommission nach der Auswertung mehrerer Gutachten ihr Votum abgegeben: der Betrieb der Ticona und die Nordwestbahn sind unvereinbar, das Risiko ist zu hoch. Doch die Landesregierung hält an ihren Ausbau-Plänen fest. Wenn man das Risiko nicht in den Griff bekommt, will man die Ticona notfalls sogar enteignen.

Der Gutachter-Streit ist aber noch nicht zu Ende. In einem neuen Gutachten wird das Absturzrisiko auch für den aktuellen Flugbetrieb als zu hoch bezeichnet; eine Abflugroute führt direkt über die Ticona. Die Landesregierung könnte dies zum Anlass nehmen, den Druck auf die Ticona zu erhöhen, um sie zum "freiwilligen" Verlassen ihres Standorts zu bringen.

Die Geschichte der Gutachterschlacht zum Thema "Risiko Ticona" bis zur Entscheidung der Störfall-Kommission lesen sie hier.

Die aktuelle Entwicklung der Risiko-Debatte um die Ticona (einschließlich der Betrachtung des aktuellen Risikos) finden Sie jetzt im Beitrag



Entscheidung der Störfall-Kommission: die Ereignisse

Anfang 2002: die Bombe tickt bereits ...

Die Risiken durch die geplante Nordwestbahn waren schon sehr früh bekannt. Bereits während des Raumordnungsverfahrens machte die Ticona Anfang 2002 auf die Probleme aufmerksam, die eine Landebahn Nordwest für das Unternehmen bringen würde. Doch die Verantwortlichen sahen keine Probleme oder nahmen sie nicht ernst. "Ticona? Da müsse doch nur ein "alter Schornstein und ein Lichtmast" beseitigt werden, meinte ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums zur Aussage der Ticona, eine Verlegung des Werks würde 1 Milliarde Euro kosten.

Mai 2002: Ticona will nicht weichen, sondern wachsen

Die Gerüchte mehren sich, dass Ticona durch die Ausbaupläne gefährdet ist. Fraport dementiert: "Die Faktenlage ist eindeutig, für eine Verlegung besteht keine Notwendigkeit." Auch Ticona vertraut noch darauf, dass der Standort nicht gefährdet ist: man stellt beim RP Darmstadt den Antrag, die Produktion für den Kunststoff Hostaform auf 100 000 Tonnen erhöhen zu dürfen.


Juni 2002: Raumordnungsverfahren wird abgeschlossen

Das Regierungspräsidium veröffentlicht die "Landesplanerische Beurteilung", das Ergebnis des Raumordnungsverfahrens. Unter zahlreichen Voraussetzungen werden darin die Vorzugsvariante "Nordwest" und die Variante "Nordost" als raumverträglich erklärt. Für die Nordwestvariante werden vertiefende Betrachtungen des Risikos gefordert.


August 2002: Ministerium gibt Risiko-Gutachten in Auftrag

Das Wirtschaftsministerium hat zwei Gutachten zum Risiko-Problem Ticona in Auftrag gegeben. Man ist anfangs optimistisch, dass die Gutachten in wenigen Monaten fertig sein werden.
Am 17. August erklärt der Hessische Verwaltungsgerichtshof Passagen im Landesentwicklungsplan für nichtig, in denen der Flughafenausbau festgeschrieben wird. Der Landesentwicklungsplan muss geändert werden.


Oktober 2002: Ticona darf Produktionsanlagen erweitern

FDP-Fraktionsvorsitzender Hahn begreift, dass das Ticona-Problem "nicht mit links" zu lösen, eine Umsiedlung des Werks zu teuer ist. Noch hat er Hoffnung: "Vielleicht gibt es ja gar kein Sicherheitsproblem".
Die Ticona erhält vom RP die Genehmigung zur Erweiterung ihrer Produktionsanlagen nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz.


Dezember 2002: Ministerium informiert Öffentlichkeit über Gutachten

Das Wirtschaftsministerium gibt der Öffentlichkeit bekannt, dass es (bereits im August) zwei Gutachten zur Risiko-Frage in Auftrag gegeben hat: eines zur Hindernisfreiheit beim Anflug auf die geplante Nordwestbahn, das andere zum Risiko eines Absturzes über dem Werksgelände der Ticona und den möglichen Folgen. Die Gutachten sollen im Rahmen des Verfahrens zur Änderung des Landesentwicklungsplans berücksichtigt werden.

Februar 2003: Die Störfall-Kommission wird eingeschaltet

Im Februar 2003 beauftragt Bundesumweltminister Trittin die Störfall-Kommission des Bundes mit einer Risikostudie zur geplanten Nordwestbahn. Das Chemiewerk Ticona und die Stadt Hattersheim hatten um eine Analyse der Absturzproblematik bei einem Landeanflug über das Werksgelände der Ticona gebeten.
Auch beim Scoping-Termin zum Planfeststellungsverfahren "Landebahn"spielt die Sicherheitsproblematik eine wichtige Rolle.

Mai 2003: TÜV-Gutachten - das "Aus" für die Nordwestbahn?

Mitte Mai veröffentlicht die Frankfurter Rundschau erste Details aus dem Gutachten des Rheinisch-Westfälischen TÜV zum Absturzrisiko beim Anflug auf die geplante Nordwestbahn. Der Gutachter schätzt das Absturzrisiko auf ein Ereignis in 600 Jahren und prognostiziert für den Fall des Falles mehrere Hundert Tote und einen Milliardenschaden. Solche Werte wären das sichere Aus für die Nordwestbahn. In einem Gutachten der Berliner Gesellschaft für Luftverkehrsforschung (GfL), das Fraport vorgelegt hat, wird dagegen nur von einem Absturz in 2278 Jahren ausgegangen. Von verschiedensten Stellen wird die Veröffentlichung der Gutachten gefordert.
Der Schreck bei den Verantwortlichen ist groß. Das Wirtschaftsministerium besteht darauf, das das TÜV-Gutachten "noch nicht fertig" ist und noch einmal überprüft wird. Später ist von "Qualitätssicherung" die Rede. Auch das zweite Risiko-Gutachten verzögert sich weiter.
Die Störfall-Kommission hat ihre Arbeit in Sachen Ticona aufgenommen. Sie wartet ebenfalls auf die Gutachten des Ministeriums.

August 2003: Flugsicherheitsgutachten fertig, Ticona wartet auf Genehmigung

Anfang August liegt auch das Gutachten über die Flugsicherheit beim Anflug auf die geplante Nordwestbahn vor. Der Luftverkehrsexperte Schänzer (TU Braunschweig) befindet, dass mehrere Schornsteine der Ticona im Wege stehen und gekürzt oder verlegt werden müssten. Das Gutachten wird aber nicht veröffentlicht.
Am 14.8. besucht die Staatssekretärin des Umweltministerums, Margarete Wolf, die Ticona. Sie hält danach eine Nordwestbahn für unvertretbar. Eine heftige politische Debatte folgt.
Die Ticona hat vom RP noch keine Betriebsgenehmigung für ihren inzwischen fertigen 30 Millionen Euro teuren Erweiterungsbau zur Produktionserhöhung erhalten. Ist das nur Zufall?

September 2003: Gegenwind für Fraport

Am 10. September reicht Fraport die Planfeststellungsunterlagen für Landebahn Nordwest beim Regierungspräsidium ein. Die Sicherheitsproblematik ist noch nicht geklärt.
Am 18.9.2003 besucht die Störfall-Kommission das Ticona-Werk. Wenige Tage später äußert sich der Vorsitzende der Kommission, Prof. Jochum, in einem Interview besorgt: nirgendwo in der Welt würde ein Chemiewerk so dicht überflogen wie es bei einer Landebahn Nordwest der Fall wäre. Aus der Kommission wird Kritik an den von Fraport vorgelegten Risikogutachten von NATS und von der GfL bekannt, die beide das Risiko als sehr gering einschätzen.
Am 23.9.2003 kommen 3000 Besucher zu einem "Tag der offenen Tür" bei der Ticona. Sie können sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass startende Flugzeuge die Chemieanlagen in geringer Höhe überfliegen. Die FAG-Fraktion im Frankfurter Römer hat eine EU-Beschwerde wegen Verletzung der Seveso-Richtlinie eingereicht.

Oktober 2003: Störfall-Kommission zunehmend kritisch

Die Störfall-Kommission trifft Manager der Fraport. Der TÜV Pfalz liefert einen ersten Zwischenstand seines "Obergutachtens" (welches das Ministerium zur "Qualitätssicherung" des Gutachtens vom TÜV Essen in Auftrag gegeben hatte) an die Kommission, das Endergebnis wird für Anfang November erwartet. Prof. Jochum spricht von einem Risikowert "irgendwo in der Mitte zwischen den bisherigen Extremen 1:600 und 1:1000000". Das Wirtschaftsministerium dementiert den Vorwurf, es "bastele so lange an den Gutachten, bis sie uns gefallen". Anfang November erklärt das Wirtschaftsministerium, das Gutachten des TÜV Pfalz würde sich wegen Krankheit des Gutachters erneut verzögern.


November 2003

Mit einem Eilantrag an das Luftfahrtbundesamt versucht die Bürgerinitiative für Umweltschutz Eddersheim künftige Überflüge über das störfallgefährdete Chemiewerk Ticona zu verhindern. Das Luftfahrtbundesamt lehnt ab: das Absturzrisiko spielt bei der Festlegung der Flugrouten keine Rolle.
Weitere Risiken einer Nordwestbahn, wie das Risiko eines Absturzes auf den Fernbahnhof bei Anflug von Osten, und ein hohes Vogelschlagrisiko, werden genannt, die Diskussion verschärft sich.
Das lange erwartete Gutachten des TÜV Pfalz soll jetzt erst im Januar fertig sein.

Januar 2004 - die heiße Phase beginnt

Am 9. Januar veranstaltet das Bündnis der Bürgerinitiativen eine Protestaktion bei der Ticona, um auf das Risiko hinzuweisen.

Am 10.01.2004 ist das Gutachten des TÜV Pfalz fertig, wenige Stunden später ist es in den Zeitungsredaktionen angekommen. Der Gutachter kommt zu einer Absturzwahrscheinlichkeit von 1:10000. Am 15. Januar werden die Gutachten offiziell im Landtag vorgestellt. Wirtschaftsminister Rhiel zieht den Schluss: Ticona und Landebahn sind vereinbar. Nach einer Sitzung der Störfall-Kommission am nächsten Tag erklärt Prof. Jochum, das Risiko sei "an der Grenze des Akzeptablen" und fordert die Prüfung von Alternativen: das Risiko müsse nicht minimiert, sondern verhindert werden.
Am 30. Januar erklärt die Arbeitsgruppe Flughafenausbau Frankfurt/Main der Störfall-Kommission: Das Ausbauvorhaben Landebahn Nord-West am Flughafen Frankfurt/Main ist mit dem Betrieb der existierenden Anlagen am Standort Ticona nicht vereinbar.. Ministerpräsident Kochs Reaktion: die Landebahn ist wichtiger als die Ticona. Notfalls will er das Werk enteignen.

Februar 2004 - die Störfall-Kommission sagt endgültig "Nein"

Fraport fordert in einem Brief die Mitglieder der Störfall-Kommission und mehr als 100 politische Entscheidungsträger auf, "ihren Einfluss geltend zu machen, dass das Votum nicht in der vorliegenden Form von der Störfall-Kommission und der Bundesregierung übernommen wird, um erheblichen Schaden für die deutsche Wirtschaft abzuwehren". Die Kommissionsmitglieder und auch das Bundesumweltministerium reagieren höchst ungnädig auf diesen Versuch der Einflussnahme.
Am 18. Februar trifft die Störfall-Kommission die endgültige Entscheidung: eine Landebahn Nordwest ist nicht vereinbar mit dem Betrieb des Chemiewerks Ticona. Ministerpräsident Koch hält trotzdem an seinen Ausbauplänen fest und spricht erneut von Enteignung der Ticona. Fraport und die CDU-Landtagsfraktion üben noch einige Zeit lang heftige Kritik am Votum der Kommission.

 

Material zum Risiko Ticona

Themen hierzuAssciated topics:

Gefahren durch Flughafenausbau FRA Absturz-Gefahr Ticona Enteignung Störfall-Kommission (SFK)

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