Das Regierungspräsidium Darmstadt (RP) erhöht den Druck auf die Ticona. Mit einer "immissionsschutzrechtlichen Anordnung" hat das RP das Unternehmen dazu verpflichtet, in einem Gutachten untersuchen zu lassen, ob durch Verlagerung betrieblicher Einrichtungen oder die Reduzierung der Lagermenge gefährlicher Stoffe die Auswirkungen eines Flugzeugabsturzes auf das Werksgelände verringert werden kann. Mit dem Planfeststellungsverfahren zum Ausbau des Frankfurter Flughafens habe die Anordnung nichts zu tun, sagte Regierungspräsident Dieke. Vielmehr verfolge die Behörde "konsequent seine Pflicht als Überwachungsbehörde, die Auswirkungen eines Störfalles und vor allem die Zahl der möglichen Opfer unter den Mitarbeitern deutlich zu reduzieren". Wie die möglichen Folgen für Ticona aussehen könnten, wurde ausdrücklich nicht spezifiziert.
Grundlage der Anordnung ist das
Gutachten des TÜV Pfalz zum Ist-Risiko , dem aktuell bestehenden Risiko durch etwa 60000 startende Flugzeuge, die das Werk heute jährlich überfliegen. In dem Gutachten, dass im Mai 2005 im hessischen Landtag vorgestellt wurde, aber bisher nicht veröffentlicht ist, war der TÜV Pfalz zu der Einschätzung gekommen, dass alle 61 400 Jahre mit einem Fluzeugabsturz auf das Werk zu rechnen sei - zu viel. Ticona hatte daraufhin verlangt, die Flugroute zu verschieben. Schon mit einer geringen Änderung könnte das Risiko auf 1 : 1 Million Jahre verringert werden. Doch das Luftfahrtbundesamt hatte eine solche Verlegung mit der Begründung abgelehnt, bei der Festlegung einer Flugroute sei es nicht relevant, ob sich ein Störfallbetrieb darunter befinde oder nicht. Ticona hat daraufhin eine Klage beim VGH Kassel eingereicht, die vermutlich im Herbst entschieden wird.
Dass die Aktion des RP ausgerechnet 14 Tage nach dem Ende des Erörterungstermin zum Flughafenausbau erfolgt, lässt nicht an einen Zufall glauben. Das Gutachten, dessen Inhalt im Prinzip schon im September 2004 durchsickerte, wurde erst vor wenigen Tagen vom RP als "fertig gestellt" erklärt und dies dann als Anlass für die Aktion gegen Ticona genommen. Ebenso auffällig ist, dass das sonst eher verschlossene RP über den Vorgang eine ausführliche Pressemitteilung veröffentlichte. Und dass das Ganze nichts mit dem Flughafenausbau zu tun haben soll, ist eine ziemlich abwegige Idee. Bei der Erörterung ist mehr als deutlich geworden, dass das Problem "Risiko Ticona" die Pläne für eine Nordwestbahn massiv stören kann und die Ticona nicht freiwillig weichen, sondern klagen will. Die Frage, warum die Behörde das Risiko des Ist-Zustandes für zu hoch hält, bei dem (noch größeren) Risiko durch eine Nordwestbahn aber definitiv keine Entscheidung treffen will,sondern dies der Planfeststellungsbehörde überlassen möchte, konnte der Regierungspräsident in einem Interview der FR nicht überzeugend beantworten.
Die Landesregierung hat sich zur Lösung des Risiko-Problems eine ebenso schlaue wie heimtückische Methode ausgedacht: im Entwurf zum neuen Landesentwicklungsplan wird argumentiert, das Risiko durch einen Absturz auf das Chemiewerk sei bei einer Nordwestbahn kaum höher als jetzt. Dabei berief man sich ebenfalls auf das Gutachten des TÜV Pfalz zum Ist-Risiko. Die Idee: Ist das Risiko heute akzeptabel, kann man auch ausbauen. Wird das Risiko aber schon heute als zu hoch angesehen (und auf diesen Gedanken könnten die Gerichte kommen), könnte man die Ticona zu teuren Gegenmaßnahmen verpflichten oder das Werk ganz schließen - in beiden Fällen wäre das Problem Ticona aus dem Weg geräumt und damit der Ausbau gesichert, ohne dass Kosten für Fraport anfallen und ein rechtlich unsicheres Enteignungsverfahren durchgezogen werden müsste.
Auch bei Ticona glaubt man weder an einen Zufall noch die gute Absicht. Der bei Ticona für den Ausbau zuständige Ralf Christner sagte gegenüber der Frankfurter Rundschau, er sei verwundert, dass der RP offenbar heute das Risiko als zu hoch bewerte, während er noch im November eine Erweiterung der Produktion genehmigt habe. Wenn das RP jetzt den Eindruck erwecken wolle, Ticona kümmere sich nicht um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter, sei das ein starkes Stück. Christner: "Weil wir dem Ausbau entgegenstehen, sucht man nun eine Lösung auf anderer Ebene."
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