Am Montag, den 15.11.2005, wurde der weiter der Tagesordnungspunkt 5.1.1, Bewertung von Fluglärm. besprochen. Schwerpunkt der Diskussion war die 100:100-Regelung. Der Raunheimer Bürgermeister Jühe zeigte die Belastungssituation in Raunheim auf. In einem Gutachten wurde ein Zusammenhang zwischen "schönem" Wetter mit sehr hohen oder sehr niedrigen Temperaturen und Betriebsrichtung 07 (Ost) nachgewiesen.
Kritik am Nachtschutz-Konzept der Fraport-Gutachter
Zu Beginn des Erörterungstages übte eine Einwenderin aus Darmstadt nochmals Kritik am Schutzkonzept der Gutachter gegen nächtlichen Fluglärm. Die Diskussion zog sich - mit zahlreichen Zwischenfragen und eingeschobenen Beiträgen - bis Mittag hin. Die Einwenderin stellte verschiedene Forderungen. Wenn das Schutzziel Gesundheit eingehalten werden soll, dürften Überschreitungen der vorgeschlagenen Grenzwerte, von seltenen Ausnahmen (etwa 10 Nächte im Jahr) abgesehen, nicht eintreten. Eine Mittelung über ein halbes Jahr dürfte nicht stattfinden. Zur Frage "Leq und/oder Maximalpegelkriterium" als Grenzwert wurde gefordert, jeweils eigenständige Gebiete für beide Kriterien auszuweisen, das Schutzkriterium soll greifen, sobald eines dieser Kriterien erfüllt ist [Anmerkung: Nach Fraport-Vorschlägen soll zuerst mit dem Maximalpegel-Kriterium geprüft werden; nur wenn dieses greift, soll das Dauerschallpegel-Kriterium zur Festlegung der Güte des Schallschutzes herangezogen werden].
Rechtsanwalt Möller-Meinecke sagte, Prof. Spreng selbst habe erklärt, er wolle an seinem Cortisolmodell noch weiter arbeiten, wie das geschehen sollte (z.B. privat, Auftrag von Fraport?). Man habe die NAT-Werte "für eine Übergangsphase" für akzeptabel erklärt, die wissenschaftiche Untersuchung sei offenbar noch nicht abgeschlossen. Erörterungsleiter Gaentzsch sah das nicht so: "Was im Gutachten steht, ist der aktuelle Stand der Erkenntnis". Spreng habe nur gesagt, er wolle sein Modell noch verfeinern, nicht, dass die jetzigen Erkenntnisse völlig unsicher sind. Gaentzsch: "Das Lärmschutzkonzept ist kein Übergangsmodell".
Der Akustik-Experte Dr. Kühner meinte, das Cortisolmodell sei für das Jansen-Kriterium "6x60" eine wichtige Rechtfertigung, aber die Cortisolwerte seien nicht genau genug bestimmt. Die von ihm selbst errechneten Werte seien doppelt so hoch. Er kenne Situationen wo man sich bei der Ermittlung von Grenzwerten auf dünnem Eis bewege und Werte herausgreifen würde, die einigermaßen plausibel seien. Plausible Werte seien z.B. die Werte, die vom holländischen Gesundheitsrat vorgeschlagen seien. Hier wird nach zwei einfachen Formel die Aufweckwahrscheinlichkeit berechnet. Eingreifen wüde man, wenn ein Durchschnittsbürger mit x% Wahrscheinlichkeit in einer Nacht geweckt würde. Jeder könne diese Berechnung nachvollziehen - aber vielleicht sei das ja gar nicht erwünscht. Kühner fragte, warum man sich statt dessen mit der "Krücke" der NAT-Werte abmühen. Prof. Scheuch kommentierte, die Politik könne nicht warten, bis endgültige Erkenntnisse vorliegen würden. Wir wollen den Entscheidern deutlich machen, wo gibt es Sicherheit und wo gibt es Spielraum."
Die Situation in Raunheim - schöngerechnet
Der Raunheimer Bürgermeister Jühe hielt einen Vortrag "Sigma-Regel versus 100:100-Regel". Zur Mediation sei die 100:100-Regel zumindest für die Nacht noch Konsens gewesen, jetzt sei Fraport davon abgewichen. Danach präsentierte er die Fluglärmsituation in Raunheim, weil diese wohl nicht allen bekannt sei. Raunheim wird bekanntlich bei Ost-Betriebsrichtung von den landenden Flugzeugen in relativ geringer Höhe überflogen. Nach der 100:100-Regel (also bei Ostbetriebsrichtung) sei der Dauerschallpegel dort 65 - 70 dB(A). Die Mehrzahl der Einzelschallereignisse liege zwischen 75-79 dB(A), manche auch noch höher. Für das Jahr 1999 habe man von Fraport entsprechende Einzeldaten erhalten [jetzt gibt es die nicht mehr ]. Je nach Wetterlage würde es oft mehrere Tage hintereinander Ostbetrieb geben, z.B. das ganze Wochenende (an dem man sich eigentlich erholen soll). Selbst die Lärmmediziner könnten hier wohl nicht von "Unbedenklichkeit" sprechen.
Was die Spitzenpegel angehe, so habe Dr. Kastka in seinem Gutachten gefordert, es sollten nicht mehr als 70 Ereignisse mit mehr als 70 dB(A) vorkommen. Nach den vorliegenden Daten seien es 450 - 500 Ereignisse über 70 dB(A), auch das Jansen-Kriterium sei deutlich überschritten (mehr als 6 mal 70 dB(A) in der Nacht). Wenn man dies jetzt allerdings über ein halbes Jahr mittele, blieben von 235 Überflügen über 75 dB(A) rechnerisch nur noch 77 übrig. "Die Realverteilung verniedlicht die Belastung auf nicht vertretbare Weise", war sein Fazit.
Betriebsrichtung Ost - fast immer bei schönem Wetter
Der Meteorologe Hasselbeck stellte danach ein Gutachten vor, in dem der Zusammenhang zwischen der Temperatur und der Betriebsrichtung des Flughafens untersucht wird. Die Betroffenen beschweren sich, dass Ostbetrieb bsonders oft bei schönem Wetter herrscht, wenn man sich draußen aufhalten will, dies sollte überprüft werden. Untersucht wurde ein Zeitraum zwischen Mai 2003 und April 2005. Für alle Tage mit Betriebsrichtung 07 (Ostbetrieb) wurde die mittlere, minimale und maximale Temperatur bestimmt. An 55% der kalten Tage (Minimum-Temperatur kleiner 0 Grad) gab es Ostbetrieb, an Tagen mit Temperaturen unter minus 5 Grad waren es sogar 60%. Insgesamt gab es an 38% aller Wintertage Ostbetrieb (diese Zahl ist etwas größer als der Durchschnitt, da auch Tage mit teilweisem Ostbetrieb hier ganz gezählt werden). Im Sommer gab es an 80% aller Tage mit Maximaltemperaturen über 30 Grad Ostbetrieb. Im "Jahrhundertsommer" gab es zahlreiche Tage über 35 Grad, hier herrschte sogar zu 90% Ostbetrieb. Längere Anschnitte mit Ostbetrieb treten meist bei Hochdruckwetterlagen auf. Im Winter kommt dann Kaltluft vom Festland, das Wetter ist schön bei niedrigen Temperaturen. Im Sommer gibt es Ostbetrieb oft bei einem Hoch in Mitteleuropa, dann ist es schönes Wetter und warm oder heiß.
Hasselbeck fasste zusammen, es gebe eine klare Korrelation zwischen Extremtemperaturen und Ostbetriebsrichtung. An solchen Tagen gebe es eine extreme Fluglärmbelastung. Gerade wenn es draußen am schönsten wäre und jeder sich draußen aufhalten wolle, sei der Fluglärm am schlimmsten. Schlafen bei offenem Fenster sei trotz großer Hitze dann nicht möglich, bis nach Mitternacht gebe es regelmäßig Überflüge. Die Temperaturen in der Stadt seien eher noch höher als die von ihm ausgewerteten Lufttemperaturen, Strahlungseffekte habe er nicht berücksichtigt. Da man die typischen Wetterlagen für Ost-Betrieb herausgefunden habe, sei eine Extrapolation der Untersuchungsergebnisse auf lange Zeiträume möglich.
Bürgermeister Jühe merkte noch an, laut Dr. Maschke sei bei großer Hitze im Schlafraum ein besonders hoher Cortisolspiegel zu erwarten, der das Aufwachen fördere. Fraport würde jetzt sagen, Raunheim habe ja schon zum großen Teil passiven Schallschutz. Ob dieser aber wirke wie gewünscht, sei offen, ein entsprechendes Gutachten sei in Arbeit. Es sei die Frage, ob die Lüfter bei geschlossenen Fenstern im Sommer genügend Luftdurchsatz schaffen würden, um hinreichend zu kühlen, und ob sie dann selbst so laut seien, dass niemand schlafen kann. Der Experte Wolf ergänzte, Flörsheim würde nach dem Ausbau in die gleiche Situation kommen wie Raunheim, die Überflüge seien dort noch niedriger.
Sigma-Regelung: viel kleineres Schutzbereiche als mit 100:100-Regel
Ein Mitarbeiter der HLUG zeigte die Effekte der verschiedenen Berechnungsmethoden (Sigma, 100:100) am Beispiel einiger Isophonen (Lärmkonturen), die nach dem Entwurf des neuen Fluglärmgesetzes gültig gewesen wären. Die Betriebsrichtungsverteilung zwischen 1991 und 2000 sei 73% West, 27% Ost. Bei der Sigma-Regelung wird darauf noch die Standardabweichung von 5% aufaddiert bzw. abgezogen. Man rechnet also mit 68% West und 32% Ost (maximal) und 78% West, 22% Ost (minimal).
Bei einer 60 dB(A) Isophone sah man, dass die von Fraport vorgeschlagene Sigma-Regelung nur wenig größere Bereiche ergibt als die heute verwendete "Realverteilung". Bei der 100:100-Regel wird der umschlossene Bereich an den "Enden", vor allem im Westen, aber auch im Süden und in Richtung Bergen-Enkheim deutlich größer. In der Nacht gibt es im Mittel 81% West- und 19% Ostbetrieb. Die Sigma-Regelung geht dann von 77:23 aus. Betrachtet man eine 50 dB(A)-Isophone, so ist bei Anwendung der 100:100-Regel ein deutlich größerer Bereich im Westen Richtung Mainz als auch im Osten (Teile von Neu-Isenburg, Heusenstamm, Dietzenbach) und Nordosten Richtung Bergen-Enkheim umfasst. Nimmt man die Einzelschallpegel (8 x 68) hinzu, reicht der von der 100:100-Regel umschlossene Bereich im Westen bis hinter Mainz, im Osten reicht der Bereich entlang der Abflugroute "07-S lang" bis hinter Messel!
Ein Vetreter der Stadt Offenbach beschwerte sich, die Fraport-Isophonen drehten knapp vor Offenbach um. "Was heißt Realverteilung? Das Wort suggeriert, es würden die tatsächlichen Verhältnisse dargestellt. Dabei handelt es sich um eine berechnete künstliche Situation". Auch Rechtsanwalt Baumann fand die Sigma-Regelung nicht ausreichend, um die Wirklichkeit darzustellen. Auch in Sachsenhausen sei man negativ davon betroffen.
Fraport gegen 100:100-Regel
Prof. Spreng nahm Stellung zu den vorhergehenden Vorträgen. Man habe sich davon leiten lassen, dass die 100:100-Regel international nicht gebräuchlich sei. Im relativ weniger überflogenen Gebiet könnten über das Halbjahr Kompensationsmechanismen gebildet werden. Es könnten Ungerechtigkeiten auftreten, dass Betroffene auf der stärker beflogenen Seite keinen Schutz bekämen, obwohl sie über das Halbjahr stärker belastet seien als andere auf der schwächer beflogenen Seite, die Anspruch auf Schutz hätten. Spreng erwähnte, auf einer Tagung des VCD habe eine Gruppe von Wissenschaftlern sich für die Sigma-Regelung ausgesprochen. Prof. Scheuch ergänzte, zur 100:100-Regel würden keine Forschungsergebnisse vorliegen. "Wir stehen sehr positiv zur Realität und messen unsere Ergebnisse daran", sagte Scheuch. Mit der 100:100-Regel könnte man vielleicht Siedlungsbeschränkungen festlegen, aber keine Lärmwirkungseffekte.
Herr Lurz, Fraport, ergänzte, es sei wichtig, dass es zwischen den Ergebnissen der Lärmwirkung und dem Messverfahren eine Korrelation gebe. Das Berechnungsverfahren sei die AZB, diese sei gesetzlich vorgeschrieben. Es gebe nur eine einzige Gerichtsentscheidung für die 100:100-Regel (Flughafen München). Das OVG Münster habe jüngst erst wieder die Realverteilung bestätigt, weil sie nach der AZB korrekt sei. Auch bei wochenlangem Ostbetrieb sei später Kompensation möglich. Es gebe dann auch wieder längere Zeiträume ohne Fluglärm.
Begutachten, was in Raunheim los ist!
Ein Einwender stellte richtig, dass in einem Ausschuss der Bundesregierung für Fluglärmfragen gesagt worden sei, man müsse sich mit den Berechnungsgrundlagen noch genauer auseinandersetzen. Daraus habe die Luftverkehrswirtschaft gemacht, man könne die 100:100-Regel jetzt abschreiben. Es habe aber keine Präferenz gegeben, nur den Wunsch nach genauerer Betrachtung. Verhandlungsleiter Gaentzsch merkte an, es habe PFV-Behörden gegeben, die die 100:100-Regelung aus Vorsorgegesichtspunkten gewählt hätten, und dies hätten die Gerichte auch nicht beanstandet. Die Frage sei nicht rechtlich strikt beantwortet, man könne auch aus Vorsorgegründen etwas tun.
Rechtsanwältin Philipp-Gerlach brachte alles auf den kurzen Nenner: "Es muss doch begutachtet werden, ws in Raunheim los ist." Das Berechnungsverfahren sei eine politische Angelegenheit. Man müsste die Urteile der Gerichte zu dieser Frage auf die Übertragbarkeit auf Frankfurter Verhältnisse überprüfen. 600 Überflüge am Tag kämen an anderen Flughäfen gar nicht vor. In Kassel-Calden hätten die Gutachter ähnliche Argumente gebraucht, für drei Flüge am Tag. Die Gutachter hätten sich überhaupt nicht für ein Berechnungsverfahren entscheiden müssen.
Fraport lieferte noch einige Argumente hinterher. So sei die 100:100-Regelung in der letzten Entwurfsfassung des Fluglärmgesetzes fallen gelassen worden. (Einwender: auf wessen Betreiben wohl?) Aussagen zur Betriebsrichtungsverteilung seien allgemein und hätten nichts mit der Verkehrsdichte zu tun. In Düsseldorf und in Köln/Bonn in der Nacht sei die Lärmsituation dramatisch schlimmer als in Frankfurt. EIne PFV-Behörde könnte natürlich die 100:100-Regel anwenden, im betreffenden Fall hätte sie aber nur Bestand gehabt, weil sie nicht beklagt worden sei. Die Lärmmediziner wiesen darauf hin, dass schließlich alle Wirkungen auf der Realverteilung beruhten: "Die Realsituation der zurückliegenden Fluglärmeinflüsse bestimmt das Ergebnis". Man begründe nur, was man aus der wissenschaftlichen Literatur entnommen habe.
100:100-Regel sichert Schutzziele
Der ZRM-Gutachter Dr. Kühner erklärte dagegen, man müsse die Schutzgüter im Auge behalten. Es gehe hier um Gesundheit, Nachtschlaf, Belästigung, Kommunikation und Erholung. Entscheidend sei zuerst , welche Kenngröße das Schutzziel absichere. Dann komme die Frage, wie man die Kenngröße abbilden kann. Beim Schlaf sei die Frage, wie oft man die Leute aus dem Bett werden dürfe, 30 mal pro Jahr statistisch verteilt oder 3 wochen hintereinander bei schönem Wetter. Der Schutz dürfe nur an wenigen Tagen (z.B. 5 Prozent, 18 Tage) verletzt sein. Die 100:100-Regel könne das Schutzziel für den Nachtschlaf gut abbilden. Bei der Kommunikation sei ebenfalls die 100:100-Regel erforderlich: "Wir können den Leuten doch nicht erzählen, heute könnt ihr euch wegen Fluglärm nicht unterhalten, kommt mal in drei Tagen wieder". Zur Erholung habe er keine Position, er arbeite als Selbständiger, meinte Kühner und sorgte damit für Heiterkeit. Bei der Belästigung könne man die 100:100-Regel mit Vorsorgegesichtspunkten begründen.
Frankfurt: 100:100-Regel muss weg!
Danach trat ein Vertreter der Stadt Frankfurt (die für den Ausbau ist) ans Rednerpult und Äußerte sich gegen die 100:100-Regelung. Nach seiner subjektiven Erfahrung gebe die 100:100-Regel die Lärmbelastung nicht korrekt wieder. Weit jenseits von Darmstadt sei es nicht so laut wie in Zeppelinheim. In Frankfurt habe man einen Sinn für Gerechtigkeit: "In Frankfurt hat man ein Gespür was richtig ist und was nicht". Man müsse sich vor allem um die besonders hoch Belasteten kümmern. Außerdem habe die 100:100-Regel erhebliche Auswirkungen auf Siedlungsbeschränkungen in Frankfurt. Sie sei sonst in Europa auch nirgendwo gebräuchlich. Fazit: "Wir müssen von der 100:100-Regel runter kommen". Die anderen Einwender fanden es gar nicht lustig. Herr Gaentzsch kommentierte, man habe sich hier auf raumordnerische Gesichtspunkte bezogen. Bei Schutzmaßnahmen solle durch die Maßnahme eine Gleichheit erzielt werden.
14 Tage ohne Erholung?
Die Raunheimer Vertreter wandten ein, es gehe um die Gesundheit der Menschen. In Raunheim gebe es neben dem Lärm auch noch den Angststress durch niedrige Überflüge. "Man versucht zu sagen, es gebe ja Lärmpausen. Die 'Lärmpausen' sind aber statistisch, sie können im Alltag nicht eingeplant werden. Man weiss nicht, ob man morgen früh durch Fluglärm geweckt werden wird oder muss sich sorgen, dass die lange geplante Gartenparty wegen Fluglärm ins Wasser fällt." Die 100:100-Regelung helfe nicht gegen alle Störungen, aber sie bilde deutlich mehr davon ab als die anderen Methoden. "Es gibt hier keinen mit Raunheim vergleichbaren Fall. Erholung ist bei Fluglärm in Raunheim nicht möglich, auch wenn einige meinen, keine zu brauchen". Fraport wollte nichts mehr dazu sagen.
Ein Einwender fragte, wie lange nach 14 Tagen Ostbetrieb ohne richtigen Schlaf die Erholungszeit sei, und ob man 14 Tage ohne Erholung sein könne, ohne dass es der Gesundheit schade. Prof. Jansen meinte dazu, die Erholung fiele exponentiell ab [?]. Was den Schlaf betreffe, so erzwinge der Schlafdruck den Schlaf, in einer späteren ruhigen Phase würde alles ausgeglichen. Es wurde die konkrete Frage an die Gutachter gestellt: "In Offenbach nach Sigma-Regelung 62 dB(A), nach 100:100-Regel 63 dB(A). In Raunheim nach Sigma-Regel 61 dB(A), nach 100:100-Regel 67 dB(A). In welcher der beiden Städte könne man sich besser erholen?" Prof. Scheuch musste passen: "Wir sagen was haben wir für grundsätzliche Erkenntnisse. Erkenntnisse für die Frage 'was bedeuten 14 Tage lang 67 dBA(A)' können wir nicht herausgreifen." Vielleicht würde ja im konkreten Fall der Dauerschallpegel greifen.
Ein Rechtsanwalt bemerkte, er wolle sich als Jurist in die inhaltliche Debatte nicht einmischen. Ihm sei aber aufgefallen, dass Sätze aus dem Gutachten G12.1 sich wortwörtlich in der Stellungnahme von 2004 des Lärm-Sachverständigenrates des Umweltbundesamtes wiederfinden. Die Autoren in dem Bericht seien Scheuch, Spreng und Jansen. Und das Kapitel "Mess- und Beurteilungsverfahren" sei von Spreng. Man habe gerade versucht, sich auf diesen Arbeitskreis gegen die 100:100-Regel zu berufen - also auf das eigentliche Gutachten. Dies sei gewissermaßen "wissenschaftliche Inzucht". Prof. Scheuch meinte dazu, die Stellungnahme sei auch von anderen Gutachtern gemacht worden.
Dr. Kühner ging noch einmal auf die Abbildung des Schutzkriteriums durch die 100:100-Regel ein. Als Bürger habe man den Anspruch, eine Nacht ungestört zu verbringen. "Hat Fraport das Recht, in Flörsheim den Menschen in 20% der Nächte bis zu 28 Lärmereignisse zuzumuten, ohne dass sie Schutz erhalten? Auf der Westseite wäre es an 80% der Tage ein Überflug mehr. Vielleicht könne man sich ja an 7 Überflüge statt 6 gewöhnen, aber die 28 in Flörsheim seien nicht zu rechtfertigen. Durch die Sigma-Regelung ist das Schutzgut Schlaf verletzt".
Ist-Situation nicht korrekt beschrieben
Rechtsanwalt Haldenwang trug ebenfalls zahlreiche Kritikpunkte vor, Das Luftverkehrsgesetz schreibe zur Bewertung des aktuellen Fluglärms Messungen vor, keine Berechnungen. In Neu-Isenburg würden an den Messstationen nur 6% der Ereignisse gemessen, 94% berechnet. In Zeppelinheim gebe es 7 dB(A) Differenzischen Messung und Berechnung, dies müsste doch untersucht werden: "Ich erheben hier für meine Mandanten die größte Aufklärungsrüge aller Zeiten", schimpfte Haldenwang. Es müsse auch geprüft werden, wie eine große Zahl von Schallereignissen (z.B. 400) von durchschnittlich 77 dB(A) auf die Menschen wirkten. Auch über Tag müssten die Einzelschallereignisse berücksichtigt werden. Es gebe Gegenden, wo der Dauerschallpegel die Situation ganz gut beschreibe, aber auch solche, wo das nicht der Fall sei. "Der Aufklärungsbedarf zum Ist-Zustand wurde schon vor 5 Jahren angemeldet, es ist nichts passiert. Ihr ganzes System ist eine eigenständige Bilanzfälschung. Sie sind nicht bereit zu sehen, was die Menschen hier belastet". Die Gutachter glaubten doch selbst nicht, ihr Auftraggeber gebe ihnen die volle Freiheit, der habe knallharte Interessen, schloss Haldenwang. Darauf Fraport: "Die Beschreibung der Ist-Situation ist zuverlässig, schließlich haben Sie Ihre Klage verloren".
Raunheim nicht speziell betrachtet
Bürgermeister Jühe versuchte nochmals, die Gutachter auf diplomatische und freundliche Weise zu überzeugen, vielleicht könnte die Betrachtung der speziellen Raunheimer Situation ja einige Aspekte ihres Gesamtbildes in Frage stellen. Er fragte, ob Fraport die Gutachter aufgefordert hätte, die Situation im besonders exponierten Raunheim zu untersuchen. Die Gutachter ließen sich von den freundlichen Aufforderungen aber überhaupt nicht aus der Ruhe bringen und wiederholten stereotyp ihre grundsätzlichen Ansichten. Zur Frage von Jühe sagte Prof. Scheuch, Fraport habe gemeinsam mit ihnen die Kriterien der Zuarbeitungen diskutiert. Man habe Forderungen gestellt, Fraport habe Berechnungen geliefert, damit habe man die Fragen bearbeitet. "Speziell zu Raunheim hat man nichts gesagt", sagte Scheuch. "Wir haben uns aber alle Orte mal angesehen".
Herr Gaentzsch brachte in die Diskussion, bei anderen Lärmarten gebe es Zuschläge für besondere Lästigkeit. Man könnte die 100:100-Regel eventuell auch als eine Art Zuschlag für längerdauernde Belastungsphasen ansehen. Er fragte, wie es bei Straßen gehandhabt werde, wo einen Teil der Zeit 70 dB(A) und an anderen Tagen wenig Lärm wäre. Dr. Kühner sagte dazu, bei Straßen gelte der "durchschnittliche tägliche Verkehr", verkehrsreichste 4 Tage in der Woche, dies für die verkehrsreichsten 10% aller Tage. Die Werte seien konservativ, denn manchmal herrsche auf der ruhigen Hofseite eines Hauses ein um 10 dB(A) geringerer Pegel als nach BImSchV berechnet, trotzdem nehme man den ungünstigen Wert. Kühner führte aus, es gebe immer Leute, die trotz Lärm bei offenem Fenster schlafen. Dann sei in Raunheim die Aufwachwahrscheinlichkeit 120% (gekippt: 90%). 90% bedeute wahrscheinlich, dass 50% Unempfindliche gar nicht aufwachten, der Rest dafür aber 2-3 mal. Die Durchschnittswerte machten keine Aussagen für das empfindliche Drittel der Bevölkerung. Fraport wollte dies nicht mehr kommentieren.
Ein Vertreter des Deutschen Fluglärmdienstes wies darauf hin, das RDF habe einen Lärmminderungsplan für die Region in Auftrag gegeben. Es sei herausgekommen, dass der Fluglärm ohne Reflexionen berechnet worden sei. In ungünstigen Lagen, z.B. in Tallagen im Taunus, könnten Reflexionen mehr als 10 dB(A) Unterschied machen.
Lärm und Pausen nicht verrechnen
Rechtsanwalt Schröder wies darauf hin, die AZB (Anleitung zur Berechnung von Fluglärm) sei lediglich ein Anhang zum Fluglärmgesetz und gelte für die Berechnung der dort genannten Lärmschutzbereiche. Sie habe für sich selbst keine gesetzliche Geltung und sage auch nichts über die Berechnung von Schutzzonen im allgemeinen. Für die Berechnung von Maximalpegeln sei sie nicht geeignet. "Für die Ermittlung des Abwägungsmaterials hat die AZB keine normative Kraft. Weder die 6 verkehrsreichsten Monate, noch die Mittelung sind vom Gesetz vorgeschrieben".
Zum Urteil des Bayrischen VGH sagte Schröder, die 100:100-Regel habe durchaus eine rechtliche Prüfung überstanden. Eine tagelange, für sich allein nicht akzeptable Belastung könne nicht mit Pausenzeiten verrechnet und die Betroffenen dadurch schutzlos gestellt werden: "Die zwei Wochen Belastung für sich sind unzumutbar, deshalb besteht Anspruch auf Schutz, egal ob andere mehr Wochen Belastung haben. Ich darf nicht eine einzige Pistolenkugel auf jemand abfeuern. Ich darf auch keine 25 Pistolenkugeln auf jemand abfeuern. Der Schutz von dem, der die 25 Kugeln abbekommt, kann nicht verwendet werden, dem der nur eine Kugel abbekommen hat, den Schutz abzusprechen. Es geht um das Minimum."
Chirurgen schlaflos in Flörsheim?
Schröder führte ein konkretes Beispiel aus. In einer durchschnittlichen Nacht dürfe es nach Fraport 6 Überflüge zu je 60 dB(A) geben. In Flörsheim seien pro Ostbetriebsnacht 26 Überflüge in 23 von 100 Nächten zulässig, bevor "6x60" greife. In Offenbach seien in 81 von 100 Nächten 7-8 Überflüge dazu nötig. Daran sehe man, dass der Durchschnittswert ein rein theoretisches Konstrukt sei: "Wir wehren uns gegen die Bezeichnung 'Realverteilung' für dieses theoretische Konstrukt."
Schröder nannte ein Beispiel: "Nehmen wir an, ein Chirurg wohnt in Flörsheim und hat in 5 Nächten hintereinander immer 15-20 Überflüge. Am Tag darauf soll er Sie operieren. Wenn er mit 20 Überflügen pro Nacht ohne Schallschutz 5 Tage lang nur wenige Stunden geschlafen hat, würden Sie sagen, der Körper vom Chirurgen hat einen ziemlichen Schlafdruck, der Betreffende ist während seiner Dienstzeit nicht richtig fit. Wenn es in solchen Situationen wegen Übermüdung zu einem Unfall kommt und jemand kommt durch den Unfall um, steht in den amtlichen Unterlagen 'Tod durch menschliches Versagen', nicht 'Tod durch Fluglärm'. Haben Sie diese von Ihnen programmierten Übermüdungszustände eigentlich berücksichtigt?", fragte Schröder in Richtung Fraport.
Schlafmangel durch Lärm - alles nur Einbildung?
Fraport wiederholte eine Äußerung von Prof. Griefahn, eine Leistungsbeinträchtigung durch lärmbedingte Schlafstörungen habe man nicht gefunden. Schröder meinte, Dichtung und Wahrheit lägen weit auseinander. Er fragte nach, ob er richtig verstanden habe, dass chronische Schlafstörungen oder längere Beeinträchtigung des Schlafes keine Auswirkung auf die Leistung habe: "Da sind Sie ziemlich weit von allem entfernt, was im Selbstversuch erfahrbar ist". Prof. Griefahn antwortete, sie habe nicht über chronischen Schlafmangel gesprochen, sondern über lärmbedingte Schlafstörungen. "Das ist etwas ganz anderes". Leistungsbeeinträchtigung habe man erst bei Maximalpegeln über 80 dB(A) gefunden. "Gravierender Schlafmangel ensteht nicht durch lärmbedingte Schlafstörungen".
Prof. Scheuch sagte dazu, man könne nicht postulieren, dass ein Chirurg wegen Lärmnächten nicht fit ist. Man habe Chirurgen wegen der Arbeitszeit untersucht, Chirurgen hätten ein besonders umfangreiches Bewältigungskonzept, es seien keine Schäden oder Fehler durch den Dienst bekannt. "Man kann nicht sagen, wenn ich nachts gestört werde, dass ich am nächsten Tag Fehler mache". Ein Zusammenhang zwischen Lärmbelastung und Unfällen sei nicht bekannt. Übermüdung sei allerdings ein Problem.
Sprüche des Tages:
- "Wir stehen sehr positiv zur Realität und messen unsere Ergebnisse daran."
Prof. Scheuch zur Frage des Realitätsbezugs der Fraport-Gutachten - "Auch bei wochenlangem Ostbetrieb ist später Kompensation möglich."
Fraport zur Frage, ob wohenlanger Ostbetrieb 100:100-Regel rechtfertigt - "In Frankfurt hat man ein Gespür was richtig ist und was nicht."
Vertreter der Stadt Frankfurt zur Begründung der Ablehnung der 100:100-Regel - "Ihr ganzes System ist eine eigenständige Bilanzfälschung."
Rechtsanwalt Haldenwang zur Beschreibung des Ist-Zustandes durch Fraport - "Man kann nicht sagen, wenn ich nachts gestört werde, dass ich am nächsten Tag Fehler mache"
Prof. Scheuch zu Folgen von lärmgestörtem Schlaf - "Gravierender Schlafmangel ensteht nicht durch lärmbedingte Schlafstörungen."
Prof. Griefahn zu Schlafstörungen durch Fluglärm
PFV Landebahn Nordwest Erörterungstermin Erkrankungen durch Lärm