NORAH Studie: keine Blutdruckerhöhung, dafür Depression ?
Von: @cf <2015-11-24>
Nach 5 Jahren Arbeit haben die Forscher heute die Ergebnisse der großen Lärmwirkungsstudie NORAH vorgestellt. Die Gefahren für das Herz durch Fluglärm sind danach kleiner als erwartet, dafür ist die psychische Belastung durch Fluglärm größer als angenommen, bis hin zur Depression. Um die Interpretation wird gestritten werden. Die Politik will den Lärmschutz verbessern (aktualisiert 27.11.2015)

Die Ergebnisse der großen Lärmwirkungsstudie NORAH ("Noise-Related Annoyance, Cognition and Health") wurden heute vorgestellt. Über 5 Jahre haben Forscher in dieser bislang in Europa umfangreichsten Studie die Auswirkungen von Fluglärm, Schienenlärm und Straßenlärm im Rhein-Main-Gebiet und den Regionen Köln-Bonn, Stuttgart und Berlin untersucht. Die 10 Mio. teure Studie wurde vom Land Hessen, einigen Kommunen sowie der Luftverkehrsindustrie (Fraport, Lufthansa) finanziert. Auftraggeber war die Umwelthaus GmbH, die zum "Forum Flughafen und Region" gehört.

Im Gegensatz zum Ergebnis anderer Studien war in der NORAH-Studie das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Fluglärm insgesamt niedriger als angenommen, mit Ausnahme der hochbelasteten Gebiete direkt am Flughafen. Insbesondere wurde keine Auswirkung auf den Blutdruck gefunden, was der aktuellen Lehrmeinung widerspricht. Dafür gab es beim Fluglärm einen signifikanten Zusammenhang mit Depressionen. Die Schlafqualität in der Rhein-Main-Region hat sich durch das Nachtflugverbot von 23-5 Uhr verbessert (weniger Aufwachreaktionen), dennoch fühlen sich viele Menschen durch den Fluglärm am Morgen gestört. Die Belästigung durch Fluglärm hat in den letzten 5 Jahren zugenommen und liegt höher als der bisher aufgrund früherer Studien angenommene EU-Standard. Im Rhein-Main-Gebiet ist sie höher als an den anderen untersuchten Flughäfen. Ein Teil der Studie, die "Kinderstudie", war bereits im Sommer veröffentlicht worden. Sie hatte gezeigt, dass Grundschulkinder unter Fluglärmbelastung langsamer lesen lernen und ihre Lebensqualität beeinträchtigt ist.

Die Politik nahm die Studie zum Anlass für Ankündigungen, dass mehr gegen die Lärmbelastung getan werden soll. Fraport freut sich darüber, das die Wirkungen von Fluglärm nun doch nicht so schlimm sein sollen wie befürchtet und verspricht, man wolle sich trotzdem weiter um Lärmschutz kümmern. Fluglärmgegner fordern dagegen die Politik zu sofortigen Aktionen gegen den Lärm auf.

Eine ganz kurze Übersicht über die Ergebnisse gibt im Beitrag der Hessenschau, eine etwas ausführlichere, aber noch leicht verständliche Zusammenfassung findet sich bei den Unterlagen zur Studie. Die weitergehende Dokumentation findet man auf den Internetseiten zur Studie.

Erste Reaktionen

In der Presse, im Rundfunk und Fernsehen fand die Studie ein großes Echo. Die direkt beteiligten Parteien und die Politiker haben sich auch schon geäußert. Außer den Insidern, die sich schon vorher mit der Studie befasst haben, hat wohl noch niemand Zeit gefunden, sich anhand der Dokumentation im Detail mit den Ergebnissen zu beschäftigen. So besteht zur Zeit ein breiter Interpretationsspielraum, und der wird auch genutzt: ja nach Interessenlage suchen sich die Parteien geeignete Aspekte heraus. So reicht die Reaktion von "Alles halb so schlimm" bei Fraport bis zur Bestätigung der schon immer geäußerten Befürchtungen bei Fluglärmgegnern. Hier eine Übersicht (wird bei Bedarf noch ergänzt):

Presseberichte

Die Presse berichtete am Tag der Vorstellung bundesweit, zumindest kurz, über die Studie, ebenso Rundfunk und Fernsehen. Bei einem Überblick über die ca. 200 Presseartikel, die Google findet, fällt auf, dass die allermeisten Artikel Überschriften der Art "Fluglärm nicht so schädlich für die Gesundheit wie angenommen" haben - wohl eine Folge der professionellen Kommunikationsstrategie (wofür eine PR-Agentur verantwortlich ist). Es gibt nur wenige Ausnahmen, meist von außerhalb der Region. Die Inhalte sind überall ähnlich, daher nur eine kleine Auswahl:

Erst in der zweiten Berichtswelle einen Tag später wird über kritischen Stimmen berichtet (siehe weiter unten).

Fraport:

Fraport zeigte sich mit den Ergebnissen der Studie zufrieden und interpretiert sie zu Gunsten des Flughafens. Die Pressemitteilung erweckt den Eindruck, dass das Gesundheitsrisiko durch Fluglärm eigentlich zu vernachlässigen sei - anderer Lärm sei schlimmer. Belästigung wird zwar eingeräumt, aber die hänge weniger vom Lärmpegel als von der persönlichen Einstellung der Betroffenen ab. Die freiwilligen Anstrengungen von Fraport zum Lärmschutz seien wirksam. Man wolle "gemeinsam mit unseren Partnern aus Politik und Luftverkehrswirtschaft und unseren Nachbarn den erfolgreichen Weg beim Lärmschutz fortführen, um das Vertrauen in unser hohes Engagement und damit die Akzeptanz des Luftverkehrs in der Region weiter zu erhöhen." Für Betriebsbeschränkungen sieht Fraport keinen Grund.

Forum Flughafen und Region (FFR):

Das FFR sprach von "differenzierten Ergebnissen". Es gebe bei allen Lärmarten "Auswirkungen auf die physische und psychische Lebensqualität der Betroffenen sowie auf die Gesundheit". Die gesundheitlichen Risiken von Verkehrslärm seien aber insgesamt geringer als in der Öffentlichkeit angenommen. Dabei wird in der Pressemitteilung durchaus der Eindruck erweckt, dass die NORAH-Studie wegen ihrer hohen Studienqualität die anders lautenden Ergebnisse anderer Studien widerlegen würde. Der FFR-Vorsitzende Prof. Wörner zeigte sich beruhigt darüber, dass die "von vielen befürchteten schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht zu erkennen sind". Und bei der Belästigung gehe es nicht nur um Fluglärm, sondern auch um Schienen- und Straßenlärm.

Politik

Die Fraktionen im hessischen Landtag zeigten bei ihren Äußerungen ausnahmsweise Gemeinsamkeiten: man müsse etwas gegen den Lärm tun. Verkehrsminister Al-Wazir kündigte an, die Untersuchung werde eine Grundlage für weitere Anstrengungen der Landesregierung bilden, die Lärmbelastung in der Region zu verringern. Es bestehe bei allen Arten von Verkehrslärm Handlungsbedarf. Der Minister kündigte an, "Lärmschutzpotenziale in Hessen systematisch zu untersuchen und wirksame Gegenmaßnahmen auf den Weg zu bringen". Die geplanten Maßnahmen zum besseren Schutz vor Fluglärm würden weiter verfolgt.

Die CDU hofft auf eine Versachlichung der Diskussion über die Wirkungen von Fluglärm. Die Grünen lobten die Studie, die erstmals detaillierte Erkenntnisse über die Auswirkung von Verkehrslärm liefere. Man müsse sie sehr intensiv studieren, um daraus konkrete Maßnahmen zur weiteren Lärmminderung abzuleiten, der Handlungsbedarf sei jedoch eindeutig. Die SPD zieht den Schluss, dass man sich "beim aktiven Lärmschutz mit allen Verkehrsträgern befassen muss". An der Forderung nach Lärmobergrenzen für den Flugverkehr halte die SPD fest. Darüber hinaus müssten die bestehenden Grenzwerte bei der Fortschreibung des Fluglärmgesetzes überprüft werden. Die LINKE sieht sich in ihrer Forderung nach einer Ausweitung des Nachtflugverbots bestätigt. Die Politik hätte jetzt keine Ausreden mehr, Maßnahmen zum Lärmschutz weiter aufzuschieben.

Kommunen, Initiativen, Betroffene

Zur Zeit liegen erst wenige Reaktionen vor. Die Initiative "Zukunft Rhein Main" zeigt sich von den Ergebnissen, auch im Gesundheitsbereich, alarmiert und fordert von der Politik schnelle Maßnahmen zur Verringerung der Lärmbelastung im Rhein-Main-Gebiet.Das Bündnis der Bürgerinitiativen sieht sich durch die Ergebnisse der Studie bestätigt und fordert sofortige Aktionen von der Politik. Eine erste kritische Stellungnahme kommt vom Arbeitskreis "Ärzte gegen Fluglärm". Die Bundesvereinigung gegen Fluglärm sieht die Studie trotz methodischer Mängel als Bestätigung für einen Zusammenhang zwischen Fluglärm und Krankheitsrisiko. Kein gutes Haar an der Studie lässt die Bürgerinitiative "Pro Rheintal", die gegen den Bahnlärm im Mittelrheintal kämpft (auch Bahnlärm wurde in der Studie untersucht).

Kritische Stellungnahmen

Während die Auftraggeber und Macher der NORAH-Studie diese als die beste Lärmwirkungsstudie loben, die jemals gemacht worden ist, gab es von Anfang an Kritik (siehe HIER), und die gibt es noch heute. Prof. Greiser, der selbst einige Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen von Fluglärm durchgeführt hat, bemängelte unter anderem die Auswahl der untersuchten Personen an verschiedenen Stellen als nicht repräsentativ und kritisierte die geringe Responserate von 6,5%. In der Pressemitteilung des Arbeitskreises "Ärzte gegen Fluglärm" sind einige weitere kritische Argumente aufgeführt, Prof. Münzel aus Mainz übte ebenfalls Kritik, vor allem an der Blutdruck-Untersuchung. Um die Studie wirklich im Detail beurteilen zu können, muss man sich wohl oder übel durch die 2000 Seiten der Dokumentation kämpfen - und entsprechende Fachkenntnisse haben. Vermutlich werden sich in den nächsten Tagen weitere Experten auf dem Gebiet der Lärmwirkungsforschung mit der Studie beschäftigen und entsprechende Bewertungen vorlegen, dann wird man sich auch als Laie eine genauere Meinung bilden können.

Spätere Stellungnahmen (die neuesten vorn, wird bei Bedarf ergänzt)

* Wichtig * 27.11.2015: Materialsammlung NORAH beim DFLD

Der DFLD hat auf seinen Internetseiten ein umfassendes Archiv mit Material zur NORAH-Studie zusammengestellt. Dort findet man nahezu alles, was bisher von oder über die NORAH-Studie veröffentlicht worden ist, teilweise mit Kommentaren, übersichtlich zusammengestellt - eine Fundgrube für alle Interessierten.

* Neu * 24.11.2015: Videos von NORAH-Vorstellung auf der ICANA Konferenz

Videos der Vorstellung der NORAH-Studie auf der Konferenz ICANA 2015 sind jetzt auf Youtube veröffentlicht worden. Die Seite, auf der sie stehen, enthält auch noch etwas ältere Interviews mit den Forschungsleitern der Studie und das Video von der Pressekonferenz bei der Vorstellung.

* Neu * 12.11.2015: Stellungnahme Arbeitsring Lärm der DEGA

Der Arbeitsring Lärm der DEGA (deutsche Gesellschaft für Akustik e.V) fasst die Ergebnisse der NORAH-Studie zusammen und sieht sich in seinen Forderungen nach mehr Schutz vor Verkehrslärm (die allerdings niocht sehr anspruchsvoll sind) bestätigt.

* Neu * 10.11.2015: Stellungnahme Arbeitsgemeinschaft Deutscher Fluglärmkommissionen

Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Fluglärmkommissionen (ADF) hat eine kritischere Bewertung der Ergebnisse (nicht aber der Methodik) der Studie veröffentlicht und betont, dass die Gesundheitsrisiken keineswegs zu vernachlässigen sind:

* Neu * 05.11.2015: Stellungnahme NORAH-Wissenschaftler zu Kritik

Die Autoren der NORAH-Studie lassen die Kritik nicht auf sich sitzen und haben eine Stellungnahme und Antworten auf Fragen verfasst:

Und weiter?

Lärmwirkungsforschung ist keine "exakte" Naturwissenschaft, wo man Zusammenhänge allgemeingültig und hieb- und stichfest durch Experimente beweisen oder mathematisch herleiten kann; die Ergebnisse hängen vom Studiendesign und die Interpretationen vom "Standpunkt" ab. Auch wenn die Studie einen großen Umfang hatte, bleibt sie eine Studie unter vielen anderen. Durch die Ergebnisse werden die bisher vorliegenden Erkenntnisse ergänzt, der bisherige Stand der Forschung wird aber nicht automatisch über den Haufen geworfen. Die Auftraggeber für die NORAH-Studie hatten das Ziel, eine Studie vorzulegen, deren Ergebnisse von allen beteiligten Interessengruppen akzeptiert werden können (was bei den Studien von Prof. Greiser definitiv nicht der Fall war), und damit die Diskussion in der Region zu befrieden. Nach den ersten Reaktionen der "Stakeholder" zu beurteilen, ist zumindest ersteres gelungen.

Den Impuls, den die Studie der Politik geben kann, allgemein mehr für den Lärmschutz zu tun, sollten die Lärmbetroffenen zur Motivation der Politiker nutzen. Wenn dabei nicht nur gegen den Fluglärm, sondern auch gegen Straßen- und Schienenlärm etwas getan wird, ist das positiv. Wenn von einigen nun mit der Studie der Eindruck erzeugt werden sollte, dass Fluglärm ja gar nicht so schlimm ist, sollten die Betroffenen dem entschieden entgegen treten - sie wissen es besser.

Themen hierzuAssciated topics:

Lärmwirkungs-Forschung NORAH-Studie

Das könnte Sie auch interessierenFurther readings:
Kritik an DLR-Studie zu Wirkungen des Nachtfluglärms
Ergebnisse könnten als Vorwand genommen werden, um geltende Lärmschutzstandards zu verschlechtern
Von: @cf <2004-12-21>
Heftige Kritik an der "DLR-Studie" zu den Auswirkungen des Nachtfluglärms wurde auf einer Fachtagung des BUND Rheinland-Pfalz geübt. Die Studie sei weder repräsentativ für die betroffene Bevölkerung, noch seien die angenommenen Aufweck-Wahrscheinlichkeiten korrekt, meinten Experten. Sollte die DLR-Studie als Maßstab genommen werden, könnte das sogar einen Rückfall hinter bestehende Lärmschutzstandards mit sich bringen.
   Mehr»
Neue Studie: Nächtlicher Fluglärm macht krank!
Deutliche Risiko-Erhöhung für Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Krankheiten
Von: @cf <2006-11-20>
Nächtlicher Fluglärm (besonders in der zweiten Nachthälfte) erhöht das Risiko für Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Krankheiten deutlich. Dies ergab eine neue Studie von Prof. Greiser am Flughafen Köln-Bonn.   Mehr»
UBA: Nächtlicher Fluglärm kann krank machen
Studie zeigt: Nachtflugbetrieb stört gesundheitliches Wohlbefinden (PM vom 22.02.2007)
Von: @Umweltbundesamt (UBA) <2007-02-22>
Nächtlicher Fluglärm führt dazu, dass die Betroffenen häufiger den Arzt aufsuchen und die Ärzte diesen mehr Medikamente verschreiben. Dies hat eine neue epidemiologischen Studie des Umweltbundesamtes ergeben.   Mehr»
100000 zusätzliche Erkrankungen durch Flughafenausbau
FAG stellt neues lärmmedizinisches Gutachten vor
Von: @cf <2006-09-11>
Nach einem neuen Gutachten wäre der geplante Flughafenausbau wegen der Zunahme von Lärm und Luftschadstoffen mit erheblichen gesundheitlichen Risiken für die Bevölkerung der Region verbunden.    Mehr»
Die Bildrechte werden in der Online-Version angegeben.For copyright notice look at the online version.

Bildrechte zu den in diese Datei eingebundenen Bild-Dateien:

Hinweise:
1. Die Bilder sind in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens (im Quelltext dieser Seite) angeordnet.
2. Beim Anklicken eines der nachfolgenden Bezeichnungen, wird das zugehörige Bild angezeigt.
3, Die Bildrechte-Liste wird normalerweise nicht mitgedruckt,
4. Bildname und Rechteinhaber sind jeweils im Dateinamen des Bildes enthalten.